Mittwoch, 25. Mai 2011

Helmholtz: Präzision durch Fehleranalyse und Berechnung des Unbekannten (Part 2)

Beispiel einer logistischen Funktion an Messdaten. Quelle: Wikipedia



Die zweite Klasse von Fehlerquellen, die das Experiment stören könnten, umfasst Faktoren, die verhindern, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau erforderten Moment geschieht. In diesem Moment, so beschreibt es Helmholtz, muss die Muskelspannung der Schwere der Belastung und Überbelastung gleich sein, d.h. wenn der mit einem Gewicht belastete Muskel gereizt wird, kann er dieses Gewicht erst heben, wenn er die ausreichende Spannung erlangt hat.

„Wenn jetzt der Muskel gereizt wird, ist es klar, dass er das Gewicht erst dann heben kann, wenn seine elastische Spannung gleich der Summe der Belastung und Überbelastung geworden ist. Es wird also jetzt der zeitmessende Strom, welcher […] durch das stromführende Zwischenstück und die amalgamierte Kupferspitze in das Quecksilber […] übergeht, erst in dem Augenblicke unterbrochen werden, wo die elastische Spannung des Muskels sich um eine, durch die Schwere der Überbelastung genau zu messende Größe vermehrt haben.“ [Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 289]

Um dieses genaue Timing einhalten zu können, muss sichergestellt sein, dass alle beteiligten Komponenten in der ausgerichteten Position verharren und keine widerstrebenden Bewegungen machen. Genau dabei macht ihm der Froschmuskel einen gehörigen Strich durch die Rechnung: er verharrt eben nicht in der Position, in die er mit Hilfe eines Gewichts gebracht wurde, sondern zieht sich in seiner elastischen Eigenschaft noch einige Zeit weiter in die Länge. Genau dasselbe passiert, wenn die Muskelspannung nachlässt, dann zieht sich der Muskel auch erst allmählich wieder zusammen und ist nicht auf einen Schlag in seiner entspannten Position. Mit diesem Verhalten stört der Muskel den zeitlichen Ablauf, weil es passieren kann, dass er zu spät auf den Reiz reagiert. Schon Eduard Weber hatte diesen sehr nachhaltigen Effekt der elastischen Nachwirkung in den Muskeln beobachtet. Helmholtz hilft sich, indem er den Muskel vor dem Versuch mit einer viel größeren Belastung dehnt, als er sie nachher gebrauchen will. Außerdem muss er beachten, genügend Zeit zwischen zwei Versuche zu lassen, ca. 30-40 Sekunden, da der Muskel sich so lange noch in Spannung befinden kann.

Doch die Fehleranalyse bringt Helmholtz keine exakteren Messwerte, sondern nur Erkenntnis über die mangelnde Verlässlichkeit der Daten, die durch störende Einflüsse ein verzerrtes Bild abgeben. Um exaktere Werte zu bekommen, wendet Helmholtz deshalb die Methode der kleinsten Quadrate an – eine Methode der Ausgleichsrechnung. Dabei wird zu den gewonnenen Messwerten eine Verlaufskurve ermittelt, die möglichst nah an den Datenpunkten verläuft. Dass Helmholtz sich hier einer mathematischen Methode bedient, die in den 1850er Jahren hauptsächlich in den exakten Wissenschaften, also der Astronomie, Physik und Chemie Anwendung fand, spricht, wie ich finde, auch für sein Selbstverständnis als „Organischer Physiker“ - so bezeichnete sich die Gruppe um Helmholtz, du Bois-Reymond, Carl Ludwig und Ernst Wilhelm von Brücke, inoffiziell. Sie berücksichtigten bei physiologischen Fragestellungen immer auch physikalische Gesetzmäßigkeiten und Techniken der exakten Wissenschaften. Während die Methode der kleinsten Quadrate also in diesen Forschungszweigen bereits Anwendung fand, kannte man sie in den Lebenswissenschaften kaum, zumal zu berücksichtigen ist, dass letztere mit viel unregelmäßigeren Messwerten arbeiten mussten, weshalb diese Methode nicht unbedingt die passendste zu sein schien. In einer Fußnote erläutert Helmholtz die Art und Weise, mit welcher Wahrscheinlichkeit und Sicherheit die Messwerte einer bestimmten Versuchsreihe zu betrachten sind:

„Für diejenigen meiner Leser, welchen die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht geläufig sind, bemerke ich hier, dass z.B. die Angabe in der neunten Versuchsreihe, der Werth des Zeitunterschieds wegen der Fortpflanzung sei 0,00175 Secunden mit dem wahrscheinlichen Fehler ±0,00014, nach einem populären Ausdrucke bezeichne, es sei 1 gegen 1 zu wetten, dass der wahre Werth dieser Differenz zwischen 0,00189 und 0,00161 Secunden liege. Es ist ferner 10 gegen 1 zu wetten, dass die Abweichung höchstens 2,5 mal, 100 gegen 1, dass sie höchstens 3,8 mal, 1000 gegen 1, dass sie 4,8 mal so groß sei, als der wahrscheinliche Fehler. Der Werth liegt also mit der Wahrscheinlichkeit  
1 gegen 1 zwischen 0,00189 und 0,00161 
10 gegen 1 zwischen 0,00210 und 0,00140  
100 gegen 1 zwischen 0,00228 und 0,00122  
1000 gegen 1 zwischen 0,00242 und 0,00108“  
[Helmholtz 1850: Messungen, S. 337f.]

Ob die Daten letzten Endes verlässlich und akkurat sind, hängt neben dem Vertrauen auf das verwendete Instrumentarium auch von den individuellen theoretischen Erwartungen des Experimentators ab. Helmholtz versuchte sich seiner Daten zu versichern, indem er in verschiedenen breit angelegten Messreihen eine möglichst viele Messpunkte erzeugte, die er dann miteinander vergleichen konnte. Er baute seine Überzeugungsarbeit nicht nur auf möglichst präzisen Messungen auf, sondern auch auf Berechnung der Ungewissheiten. Auf diese Weise schärfte er die Daten Stück für Stück, näherte sich dem wahrscheinlichsten Wert immer mehr an. Nichtzuletzt zeigte die Methode der kleinsten Quadrate, dass Genauigkeit und Präzision allein keine Garanten für Gewissheit waren. [Vgl. Olesko/Holmes 1993: Experiment, Quantification, and Discovery, S. 98f.]

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