Samstag, 14. Mai 2011

Wie Helmholtz auf die Idee kam, die Nervenleitgeschwindigkeit zu messen

Wie schon im letzten Post angedeutet, dienten Webers Untersuchungen zur Muskelbewegungen Helmholtz als Grundlage für seine eigenen Versuche auf dem Gebiet.(1) Anders als Weber, der sich für langanhaltende Muskelbewegungen interessierte, wollte Helmholtz momentane Muskelzuckungen untersuchen, die durch einen kurzen Stimulus erzeugt wurden. Für ihn stellte sich damit das Problem, einen Prozess zu betrachten, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde ablief. Für seine ersten Testversuche baute Helmholtz sich einen Prototyp, mit dem er einen Froschmuskel elektrisch reizen konnte und die daraus folgende Zuckung auf eine rotierende Trommel aufzeichnete. Helmholtz kombinierte dazu Elemente von Webers Experiment sowie Teile von Carl Ludwigs (1816-1895) Kymograph, einem Gerät, das den Blutdruck graphisch aufzeichnete. Weber hatte bei seinen Versuchen festgestellt, dass organische Muskel auf eine Reizung zeitverzögert reagieren. Bei animalischen Muskeln könnte er diese Verzögerung nicht beobachten und betrachtete die Reaktion als instantan. Helmholtz' Experimente konnten nun auch bei animalischen Muskeln eine Zeitverzögerung feststellen, insofern widerlegte er Webers Erkenntnisse in diesem Punkt.(2) Allerdings erschien Helmholtz sein erster einfacher Apparat nicht präzise und akkurat genug, um mehr Aufschluss über den genauen Verlauf der Muskelzuckung zu geben. Aber immerhin bildeten diese ersten Versuchen den Anstoß für seine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema. Um jetzt präzisere Messungen anstellen zu können, löste Helmholtz sich von der anschaulicheren graphischen Methode und wählte in Anlehnung an Pouillet die elektromagnetische Messmethode. Bei diesen Versuchen stellt Helmholtz fest, dass sich die Muskelzuckung umso mehr verzögert, je weiter entfernt vom Muskel er den Nerv reizt. Das bringt ihn schließlich auf die Idee, die Nervenleitgeschwindigkeit zu messen, was ihm auch gelingt. Die Messungen zur Geschwindigkeit des Nervenimpulses rangierten zwischen 24,6 und 38,4 Metern pro Sekunde. Die Nervenleitgeschwindigkeit war also doch messbar, eine Feststellung die auch den Ansichten Helmholtz' Lehrer Johannes Müller widersprach, der, wie andere Physiologen der Zeit, an eine Ausbreitung der Nervenimpulse mit nicht messbarer Lichtgeschwindigkeit, glaubte. Welche Prozesse genau nun aber diese Impulsausbreitung so verlangsamten und überhaupt ausmachten, darüber gab es noch keine genauen Erkenntnisse und Einigkeit. Jedoch konnte Helmholtz schon auf Du Bois-Reymonds Untersuchungen zurückgreifen: Dieser nahm an, dass bei der Nervenleitung Veränderungen auf molekularer Ebene im Gewebe stattfänden. Helmholtz zog gerne den Vergleich mit der Schallausbreitung oder der Ausbreitung von Explosivstoffen heran. Sehr schön nachzulesen ist dieser Vergleich auch in einem Brief an seinen Vater, der die "Gedanken und körperlichen Affecte nicht als ein Nacheinander, sondern als ein Zugleich" ansah. Er glaubte nicht Recht an eine Verzögerung zwischen Reiz und Reaktion geschweige denn zwischen Reiz und Wahrnehmung - in seiner eigenen Wahrnehmung erschienen ihm diese Prozesse instantan. Geduldig und in der Pflicht zu überzeugen, antwortete Helmholtz ihm ausführlich:

„Du musst bedenken, dass die Wechselwirkung geistiger und körperlicher Acte immer erst im Gehirn stattfindet, und dass das Bewusstsein, die geistige Thätigkeit, mit der Fortführung der Nachricht von der Haut, der Nervenhaut des Auges oder dem Ohr bis zum Gehirn hin nichts zu thun hat, dass für den Geist diese Fortpflanzung innerhalb des Körpers ebenso gut etwas Aeusseres ist, wie die Fortleitung des Schalles von der Stelle, wo er entsteht, bis zu dem Ohre hin. So wie es hier die elastischen Kräfte der Luft sind, welche die Erschütterung des tönenden Körpers bis zu dem Nervenapparate des Ohres tragen, sind es nachher Bewegungen der kleinsten materiellen Theile der Nervensubstanz, welche sich vom Ende des Nerven bis zu seinem Ursprung im Gehirn fortpflanzen, welche hier erst wahrgenommen und zur Nachricht für das Bewusstsein werden. Dass die Geschwindigkeit dieser Fortpflanzung in den Nerven keine so ungeheure sein würde, als die des Lichts und der Electricität, liess sich vermuthen, seitdem man durch die Versuche von du Bois die Electricitätsentwicklung kannte, welche bei der Fortpflanzung einer Nachricht, eines Reizes, durch den Nerven eintritt, weil man daraus schließen musste, dass die materiellen Theile des Nerven dabei ihre Lage ändern. Die Fortpflanzung ist aber in der That langsam genug, langsamer als der Schall. Dass uns die Zeitdauer dieser Fortpflanzung so ungeheuer klein vorkommt, liegt daran, dass wir eben nicht schneller wahrnehmen können, als unser Nervensystem arbeitet, und uns deshalb die Zeiträume, welche dieses zu seinen Verrichtungen gebraucht, unwahrnehmbar klein sind.“(3)

Mit dem Problem der Demonstrierbarkeit seiner Erkenntnisse, die mit der menschlichen Wahrnehmung allein nicht feststellbar waren, hatte Helmholtz zu kämpfen. Er entwickelte darum zwei Strategien: zum einen wollte er mit Präzision anhand quantitativer Messergebnisse überzeugen, zum anderen mit den anschaulicheren graphischen Kurven, die er später in Rückgriff auf seinen ersten Prototyp mit einem neuen und verbesserten Apparat erzeugt. Die erste Strategie der Präzionsmessung ist auch von einer gründlichen Fehleranalyse begleitet. Das werde ich im nächsten Post länger ausführen.


(1) Helmholtz, Hermann von (1850): Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 276–364, hier S. 276f.
(2) Webers Definition animalischer und organischer Muskeln in Wagner (1846): „Animalische Muskeln nenne ich die, welche, wenn sie gereizt werden, augenblicklich in Zusammenziehung geraten, und auch ebenso schnell wieder in dieser Zusammenziehung nachlassen, sobald die Reizung aufhört. Organische Muskeln sind die, welche nicht im Momente einer schnell vorübergehenden Reizung, sondern erst eine Zeit darauf zur Zusammenziehung angereizt werden und deren Bündel dadurch successiv in einer gewissen Ordnung und Aufeinanderfolge in Zusammenziehung gerathen könnte.“ (Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig: Vieweg, 3, Teil 2, S. 1–122, hier S. 3). 
(3) Helmholtz in einem Brief an seinen Vater, In: Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 122f.

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